Texte

„Der Name des Fischrestaurants in Marseille?“ Ella schliesst die Wohnungstür auf, das Handy am Ohr und Karo in der Leitung. Ihr fällt ein, dass Jonas damals die Speisekarte fotografiert hatte, weil ihn die fehlerhafte englische Übersetzung amüsierte. „Du, Jonas ist nicht da, der kann sich doch immer an solche Dinge erinnern.“ Ella geht durch die Wohnung, auf dem Küchentisch die ungeöffnete Post und alte Zeitungen. Am Kühlschrank eine Postkarte aus Wien. Sie entdeckt sein iPhone auf der Kommode im Flur, zögert kurz. Ella geht die Fotos durch, sieht Aufnahmen des letzten Skiurlaubs in Grindelwald, vom 60. Geburtstag von Jonas‘ Vater und dem Kurztrip nach Oslo. Vor den Fotos aus Oslo sollte das Album mit den Aufnahmen aus Marseille sein, doch da sieht Ella ein Foto von Jonas und einem Mädchen. „Ella, bist du noch da?“, fragt Karo ungeduldig. „Ich rufe dich zurück.“, sagt Ella mit brüchiger Stimme. Sie setzt sich in den Türrahmen zum Wohnzimmer schaut sich das Foto genauer an. Vier Füsse in einem intimen Moment. Jonas‘ Tattoo an der rechten Wade verrät ihn. Das Mädchen sitzt ihm wohl auf dem Schoss, ihre nackten Mädchenfüsse zwischen seinen. Ella betrachtet sie länger und stellt sich dabei Jonas‘ gelösten Gesichtsausdruck vor. Ihre Knie zittern. Nicht weinen. Sie legt das iPhone zurück auf die Kommode, nimmt Koffer und Reisetasche aus dem Schrank. Mit wenigen Handgriffen packt sie ihre Kleider in den Koffer, Bücher und Schallplatten aus dem Wohnzimmer in die Reisetasche. Ella lässt sich noch ein wenig Zeit. Sie will sich verabschieden vom Linoleumboden in der Küche und dem rotgepunkteten Lampenschirm. Als sie in Jonas‘ Arbeitszimmer steht, verschiebt sie die Möbel unauffällig mit den Fingerspitzen, hängt zwei Bilder ab und bläst den Staub vom Lampenschirm. In einer Kiste vor dem Fenster findet Ella ein Fernglas, durch das sie den Regen draussen betrachtet. Sie erinnert sich an den Abend im Juli vor zwei Jahren, als Jonas und sie beim Picknick an der Limmat von einem Gewitter überrascht wurden und zu Jonas nach Hause rannten. Ella kann den Geruch des Teers, auf den der Sommerregen prasselte, riechen. Die nassen Kleider hatten sie im Flur ausgezogen, tranken eine Flasche Rotwein und schliefen zusammen. Jonas stellte sich damals nackt ans Fenster und schaute mit dem Fernglas in die Nacht. Ella hatte auf dem weissen Laken gelegen und ihr Haar zwischen den Fingern gedreht, ihr Blick kreiste an der Decke, verweilte kurz auf eingerahmten Fotografien. Jonas kam zurück zu ihr ins Bett und fuhr mit seiner Nase über ihren Oberarm, grub sie kurz in Ellas Achselhöhle und kreiste damit um ihre rechte Brust. Ella fragte ihn, was er rieche. Brüste, meinte Jonas. Brüste sind doch kein Geruch, lachte Ella. An diesem Abend war sie das erste Mal bei Jonas gewesen und zwei Wochen später zog sie ein. Ella legt das Fernglas zurück in die Kiste.
(Auszug aus „Grosser Himmel. Wilde Wolken.“)


Zurück vom Einkauf heute Nachmittag, stapelte Marie die Tierchen in den Bauch der Truhe. Die Hummer lagen im Plastik, festgefroren zu vorwurfsvollen Klumpen. Hummer sind anspruchslose Einzelgänger. Wie Paul es war, dachte sie sich. Diese Woche gab es bei Bianchi Hummer zum Aktionspreis. Marie hat sich gleich zwanzig frische Babyhummer einpacken lassen und dafür gestern noch die Gefriertruhe geleert und das Eis mit einem Messer weggeschlagen, während draußen zum ersten Mal in diesem Sommer die Sonne schien. Später taut Marie den Hummer auf der Wiese im Hinterhof auf, er schmilzt in seiner Schale, die Spitzen seiner Zangen reichen bis ins saftige Gras. Es ist heute das zehnte Mal, dass sich Marie Hummer kocht, seit Paul damals ging und nicht wieder kam.
Marie setzt sich daneben, beobachtet, wie das Tier weicher wird, während drinnen die Tür der Gefriertruhe offen steht. Anschliessend legt sie ihn auf eine Silberplatte und trägt ihn feierlich in die Küche. Nachdem sie das siedende Wasser in den Kochtopf gegossen hat, öffnet Marie eine Flasche Wein. Langsam lässt sie den Hummer in den Topf gleiten und giesst den Rest heissen Wassers über das Tier. Während der Hummer vor sich hin kocht, steht Marie am Küchenfenster und trinkt Wein. Das blubbernde Geräusch des kochenden Wassers im Hintergrund.
(Auszug aus „Paul“)

6:15 Uhr - Immer sträubt sich das Haar, wenn Karl den Fön nimmt und sich die Frisur machen will. Es trotzt Rundbürste, Haarlack, Spray. Borstig auseinander gespreizt steht es um das Zentrum eines Wirbels, gleich einem Pinsel, mit dem beim Malen zu sehr aufgedrückt wurde. Verräterisches Haar - der Scheitel links ist streng gezogen und zu weit nach hinten geführt. Er bildet einen hellen Streifen, als wäre der Kopf einmal an dieser Stelle geöffnet worden und eine Narbe davon zurückgeblieben. Das ist es, denkt Karl, was sich manch einer wünscht: Jemandes Schädel öffnen, ihm ins Hirn glotzen, den geheimsten, verstecktesten Gedanken aufspüren. Karl tupft mit der Hand über den Scheitel, hält inne. Karl nimmt die Schere aus der Schublade. Feine Bartspitzen fallen auf den Waschbeckenrand und die Bodenfliesen hinab. Er gibt Haarwachs auf die Fingerspitzen, zwirbelt den Schnauzbart. Er geht aus dem Bad, stellt sich vor den Wandschrank im Flur und entscheidet sich für den anthrazitfarbenen doppelreihigen Anzug.
(Auszug aus „Karl“)

22:00
PLAY. Ich streiche über die Buchrücken in meinem Billyregal, ziehe den einen und anderen Klassiker raus. Ich lerne, dass die Dreiecksbeziehung nichts Modernes oder Zürihaftes ist, sondern ein uraltes Muster. „Anna Karenina“ von Tolstoi, Fontanes „Effi Briest“ und auch bei Goethes „Wahlverwandtschaft“ - alle haben es getan. Zwei um einen konkurriert. In den Büchern kommt es nur selten zu einem guten Ende. Die Betrügerin Anna Karenina stirbt. Effi Briest wird todkrank und zieht zurück zu ihren Eltern, was nach Höchststrafe klingt. Ich sehe den grünen Punkt bei Facebook Chat. Max ist online. „Was machst du?“ ENTER. „Also gerade meine ich, nicht so generell“ ENTER. „Du kannst mir auch später ne Mail schreiben.“ ENTER. „oder sms“ ENTER. Der grüne Punkt ist wieder weg.
22:30
STANDBY. Ein Glas Rotwein am Küchentisch, Korianderhühnchen und frisch gewaschene Wäsche.
23:00
PLAY. Eine Sms an meinen besten Freund: „Würdest du mich auch als Junge gut finden?“
(Auszug aus „Stop Motion“)

„Bleibst du diese Jahr länger bei deinen Eltern? Wir könnten nach dem Festtagstumult einen Spaziergang im Wald machen, hättest du Lust?“, fragt mich Mike und stemmt die unförmige Gans über die Theke und ich meine für einen Moment den Schnabel durch die Ausbeulung der Tüte zu erkennen. „Das wäre schön, ich melde mich bei dir“, entgegne ich und gehe mit der Gans nach Hause. In der Schule war ich in Mike verliebt, bis er mir einmal das Ohr eines Spanferkels in den Briefkasten gelegt hatte mit einer Karte „Ich würde gerne an deinem Ohr knabbern“. Wie ich so an diese Zeit denke, wie wir manchmal nachts in der Metzgerei seiner Eltern vom Schinkenbein stibitzten, würde ich gerne wieder klein sein. Ich schrieb meterlange Wunschzettel, die ich für das Christkind vor das Fenster meines Kinderzimmers legte und daneben eine kleine Laterne, damit das Christkind auch im Dunkeln mein Fenster fand. Das Barbie-Schloss bekam ich nie und der grosse Bruder, den ich mir jedes Jahr gewünscht hatte, sass auch nie unter dem Weihnachtsbaum. „Da bist du ja endlich Anna!“, mein Vater steht aufgebracht im Flur, reisst mir die Gans aus der Hand und schiebt mich vor sich in die Küche. Vater hat immer Angst, wir würden es nicht rechtzeitig schaffen, die Gans zu stopfen und damit meine vegetarische Mutter verärgern, was wiederum dazu führt, dass sie sich über meinen veganen Bruder ärgert, weil dieser jedes Jahr vorgängig anruft und sich erkundigt, wann denn genau das Essen beginnt, weil er den Gansgeruch nicht länger als ein Fussballspiel aushält.
(Auszug aus „Vegane Weihnachtsgans“)